Die Toten von
Falein
„Ich sage dir, der Alte hat uns angelogen“,
knurrte Adalhard schlecht gelaunt.
Hinkmar warf ihm einen angespannten
Blick zu, »Zweifelst du etwa an dem
Urteilsvermögen unseres Königs?«
Mit gezogener Klinge drehte sich
Adalhard langsam um und tippte mit der
Spitze seines Langdolches bedrohlich auf
Hinkmars ledergepanzerte Brust, »Du
kennst mich nun seit mehr als zehn
Jahren, habe ich je an einem Karolinger
gezweifelt?«
Er ließ Hinkmar ein wenig Zeit zu
verstehen, in welche Lage ihn seine
unbedachten Worte gebracht hatten, »Ich
zweifele nicht an ihm, sondern an dem
Wort eines daher gelaufenen Bettlers,
auch wenn er das Kreuz unseres Herrn
um den Hals trägt. Und du tätest gut
daran, nie wieder meine Treue in Frage zu
stellen«
Wir befinden uns im Jahr
siebenhundertfünfundsiebzig des Herrn,
am Rande des ehemaligen
Herrschaftsgebiets der Langobarden.
Noch vor einem Jahr waren diese Gebiete,
rund um den Piz Aela, sowie der Rest der
Alpen, Grenzgebiet zwischen dem
Fränkischen - und dem
Langobardenreich.
Nun, da Carolus Magnus, Desiderius
besiegt und sich selbst zum König der
Langobarden hat ausrufen lassen, gehört
dies alles hier zum Fränkischen Reich.
Nachdem er die lang belagerten Städte
Papia und Verona besichtigt hatte, zog
Karl mit dem Großteil seines Heeres,
darunter zwei seiner besten Offiziere,
Adalhard und Hinkmar, zurück nach
Baioaria. Als sie den Umbrailpass
zwischen Bormio und Santa Maria
überquerten, gerieten sie eines Nachts in
einen so schweren Schneesturm, das der
König den Herrn um Hilfe anflehte. Als
sich am Morgen die Unwetter auflösten,
wurde nicht ein Soldat vermisst. Zum
Dank gelobte unser König an eben
diesem Pass ein Kloster zu errichten.
Dort stand bereits eine kleine
Holzkapelle, die ein konvertierter Sachse
als Zeichen seines Glaubens dort
errichtet hatte. Der ehemalige Druide war
über Karls Großzügigkeit so dankbar, dass
er ihm von seinem ehemaligen Stamm
erzählte. Dieser soll sich auf einem
schwer zugänglichen Plateau, unterhalb
des Muchetta ein kleines Dorf errichtet
haben.
Unser König zögerte nicht lange und
entsandte unverzüglich Adalhard und
Hinkmar. Jeder Heide im Fränkischen
Reich wusste was ihn erwartete, falls man
ihn erwischte, so lautete der Befehl:
Findet sie und lasst keinen am Leben.
Zusammen mit einer Kohorte, etwa
vierhundertfünfzig Mann, brachen sie
noch am selben Tag auf.
Nach mehreren Wochen erreichten sie
über den Pass da l'Alvra das unterhalb
liegende Tal. Am Morgen hatten Adalhard
und Hinkmar dem Heer befohlen, hier ein
Lager zu errichten und waren mit ein
paar Männern in Richtung Plateau
aufgebrochen. Der Aufstieg war
beschwerlich, die schmalen
verschlungenen Wege zwangen sie von
Zeit zu Zeit von ihren Pferden abzusteigen
und diese an den Zügeln zu führen. Nun
aber, oben angekommen, hatten sie
einen guten Platz gefunden, von dem aus
sie einen großen Teil des Plateaus
überblicken konnten, doch es schien
unbewohnt.
»Ich wusste nicht, dass du heute derart
empfindlich bist. Ich wollte nicht…«
»Ich weiß, was du wolltest«, unterbrach
ihn Adalhard rau, »noch bin ich es, der
hier das sagen hat. Und ich sage, wir
gehen weiter, finden diese verfluchten
Sachsen und vertilgen sie allesamt von
Gottes grüner Erde«
Hinkmar nickte Stumm, stieg auf sein
Pferd und gab ihm die Sporen.
»Verdammter Jüngling«, dachte Adalhard.
»Was soll nur aus uns werden, Radulf, wir
sind nur noch so wenige« schluchzte
Daglind.
Eine weitere Träne ran über ihre Wange
und tropfte auf Radulfs Schulter. Der
schwere Leinenstoff seines Mantels war
bereits mit der salzigen Flüssigkeit
durchtränkt.
Radulf, der für einen Druiden
ungewöhnlich jung war,
streichelte behutsam Daglinds Kopf. Er
verstand Ihre Verzweiflung. Ihr kleiner
Stamm war in den letzten Monaten stark
geschrumpft. Der Sommer war zu feucht,
die Ernte war schlecht und, wen der
Hunger nicht umbrachte, den erwischte
die Kälte im darauf folgenden,
ungewöhnlich strengen Winter.
Zweiundzwanzig waren sie noch, vier
Männer, zehn Frauen, und acht Kinder.
Nachdem ihr letzter Druide im Winter
verschwand, war die Wahl, dessen
Nachfolge anzutreten, auf ihn gefallen.
Radulf war darüber nicht besonders
glücklich, doch der Stamm hatte
entschieden.
»Warts ab, Daglind, wenn wir erst die
Irminsul vollendet haben, wird Wodan
uns verzeihen«
Seine Hand deutete auf den kunstvoll
bearbeiteten Baumstamm, der zu ihren
Füßen lag. Die alte Irminsul war von
einigen Jahren von den Franken zerstört
worden. Radulfs Stamm war damals für
den Schutz des höchsten Heiligtums der
Sachsen verantwortlich gewesen, doch
sie hatten der Übermacht des Feindes
nichts entgegenzusetzen. Die wenigen
Überlebenden seines Stammes weigerten
sich, ihrem Glauben abzuschwören.
Verfolgt und geächtet, flüchteten sie sich
schließlich in diese einsame Bergregion.
Hier würden die Franken niemals nach
ihnen suchen, denn für gewöhnlich
siedelten Sachsen nicht so hoch im
Gebirge und schon gar nicht so nah am
Langobardenreich. Viele Winter hatte sein
Stamm Wodan um Vergebung angefleht,
Vergebung für ihr Versagen die Irminsul,
die Weltensäule, nicht vor der Zerstörung
bewahrt zu haben.
Wodan bestrafte sie dafür noch immer
mit Hunger, Krankheit, Einsamkeit und
Isolation. Aber endlich, in diesem
Frühjahr, als alle Hoffnung endgültig
vergebens schien, schickte Donar ihnen
ein Zeichen; während eines
fürchterlichen Unwetters, schlug ein
gewaltiger Blitz in eine uralte Kiefer. Er
spaltete den mächtigen Baum der Länge
nach in zwei Hälften, doch nicht ein Ast
verbrannte. Der von den Göttern berührte
Stamm war die erneuerte Verbindung
zwischen seiner und der Welt der Asen,
Asgard.
»In zwei Tagen ist es soweit, die
Fundamentgrube wird tief genug sein.
Dann stellen wir sie auf und alles wird
wieder gut sein«, er küsste sie.
Für einen kurzen Moment erhellte sich
ihr Gesicht, doch die Zuversicht wurde
alsbald wieder durch Zweifel und Angst
verdrängt.
»Wenn die Franken uns hier finden, ist
alles vorbei«
»Haltet euch bereit und bringt mir
Armin«, flüsterte Adalhard einem
Soldaten ins Ohr.
Nach stundenlanger Suche hatten sie die
Sachsen nun endlich entdeckt. Die
fränkischen Soldaten hatten eine
schlecht einsehbare Position hinter
einem alten Baum bezogen. Von hier aus
konnten sie das Plateau recht gut
überblicken, waren aber für andere
beinahe unsichtbar.
»Wie lauten meine Befehle, Herr?«,
flüsterte Armin, sobald er die Deckung
erreicht hatte.
Adalhard wies auf die Lichtung und
antwortete grimmig »Dort hinten sind
vier sächsische Heiden, zwei von ihnen
scheinen nach etwas zu graben. Am Rand
stehen eine Frau und ein Mann. Ich
kenne diese Kleidung und die Art wie der
Mann sich bewegt, das muss ein
sächsischer Druide sein. Er ist ihr
Anführer, er darf unter keinen
Umständen entkommen. Nimm deinen
Bogen und erfülle deine Pflicht«
Armin zögerte keine Sekunde, er legte
einen, mit einer Ahlspitze bestückten
Pfeil an seinen Eibenbogen und spannte
ihn solange, bis er das für die Entfernung
notwendige Zuggewicht entwickelt hatte.
Etwa vierhundert Ellen galt es zu
überwinden, doch für diese Waffe und mit
Armins Erfahrung war das ein durchaus
lösbares Problem. Er entspannte seine
Schusshand, mit einem surrenden
Geräusch schoss das tödliche Projektil in
die Abenddämmerung. Der Pfeil
beschrieb eine perfekte Parabel, eher er
in sein Ziel einschlug.
Adalhard sah, wie der Druide lautlos
zusammenbrach, noch bevor der Körper
auf den Boden aufschlug, gab Adalhard
den Befehl zum Angriff.
Ich würde gerne etwas erfreulicheres
berichten, doch ich bin zur Wahrheit
angehalten. Die Zeiten waren rau und
folglich die Sitten nicht weniger. Das Heer
des großen Karl, bewies an diesem Tag
erneut, die notwendige Härte um das Volk
der Germanen zu einen und das Wort des
Herrn zu verkünden.
Adalhard und Hinkmar führten ihre
Soldaten mit grimmiger Entschlossenheit
in die Schlacht. Der Druide Radulf, war der
erste, der starb. Seine leichte Lederkappe
war kein Hindernis für die
panzerbrechende Ahlspitze des
fränkischen Pfeils.
Das Geschoß drang mehrere Zoll in
seinen Schädel, er muss augenblicklich
tot gewesen sein. Daglind wurde gleich
von mehreren Pfeilen getroffen, stürzte
Kopfüber in die Grube zu ihren Füßen
und brach sich den Schädel an einem
Stein. Auch sie war tot noch bevor die
Soldaten die kleine Lichtung erreichten.
Einer der beiden Sachsen, die in der
Grube gearbeitet hatten, versuchte zu
fliehen. Er schaffte es tatsächlich, noch
einige Ellen zwischen sich und seine
Verfolger zu bringen, ehe auch er im
Pfeilhagel starb. Die alte Frau,
die im Graben verblieben war, berichtete
den fränkischen Soldaten völlig
verängstigt von den kürzlichen
Begebenheiten, den anderen noch
verbliebenen Siedlern und wo diese zu
finden waren. Ihr wurde dafür ein kurzer,
schmerzloser Tod gewährt.
Adalhard ließ das restliche Heer holen
und das Plateau umstellen. In immer
enger werdenden Kreisen trieben sie die
Siedler vor sich her. Am Ende des Tages
war keiner der Heiden mehr am Leben. Da
die Sachsen keine Christen waren und
auch in der Vergangenheit die
Gelegenheit zum Christentum zu
wechseln nicht genutzt hatten,
verweigerte man ihnen die
Sterbesakramente. Die Toten wurden
nicht begraben und an Ort und Stelle
ihres Todes liegen gelassen.
Die Fundamentgrube wurde zugeschüttet,
so wurden lediglich die sterblichen
Überreste von Radulf, Daglind und der
alten Frau mit Erde bedeckt.
Die ärmlichen Behausungen und der
gesamte Besitz der Heiden wurden
durchsucht. Es fanden sich nur wenige
Dinge von Wert, die Aufzeichnungen der
Stammesgeschichte, die
glücklicherweise in meine Hände fielen,
einige Werkzeuge, drei Dolche und ein
wenig Schmuck, der den Schatzkammern
Karls zugeführt wurde. Der Rest wurde
zusammengetragen und ebenso wie die
Behausungen, verbrannt. Hinkmar
persönlich entzündete denn
Scheiterhaufen, an dessen Spitze die
Irminsul gesetzt worden war.
So endeten die Leben der heidnischen
Sachsen von Falein und der vielleicht
letzte Versuch, deren Glaube noch einmal
aufleben zu lassen.
Scriptori Rabanus, annales regnum 809
a.D.
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